Dienstag, 19. April 2016

4. Hospitation: Mali-Schule Biberach

Donnerstag, der 3. März 2016


Der Tag begann ziemlich gemütlich: Nach einem allgemeinen "bereit machen für den Tag" haben wir unsere Sachen so weit zusammengepackt und -geräumt, dass wir nachmittags nur noch alles ins Auto zu packen brauchten. Als das erledigt war, durften wir entspannt ein wunderbares, von der Schule für uns vorbereitetes Frühstück genießen! Neben Müsli, Brötchen, Brezeln sowie jede Menge Möglichkeiten zum Belegen gab es Kaffee, Tee, Milch oder Saft ebenfalls zur freien Wahl. Glücklich gesättigt warteten wir auf den Start unseres Hospitationstages. 
Begonnen hat dieser kurz darauf mit einer kleinen Einführung von Seiten des Schulleiters. Wir haben ein paar grundlegende (und ergänzende) Informationen erhalten, die wir mit in die Beobachtung des Schulalltages nehmen konnten, zum Beispiel folgende:
  • Die Mali-Schule ist nun im dritten Jahr eine Gemeinschaftsschule, allerdings ohne Grundschulstufe. Die Schülerinnen und Schüler kommen aus acht umliegenden Grundschulen und müssen sich demzufolge bewusst entscheiden, wo sie ihre nächsten Schuljahre verbringen und ihren Abschluss absolvieren wollen. Leider muss die Schule gegen ihren schlechten Ruf in der Region kämpfen. Ziel ist eine Zweizügigkeit bei den Klassen, denn dann kann man die Gegebenheiten (und Konzepte etc.) optimal nutzen. 
  • Im Alltag begegnet man immer neuen pädagogischen Herausforderungen. Eine davon ist beispielsweise Inklusion (von Kindern mit Lernbehinderung, mit geistigen Entwicklungsstörungen, ...). Die bisher einzige Schulform, die inkludiert, ist die Gemeinschaftsschule. (Ab dem Schuljahr 2016/17 werden dies auch andere Schulen tun müssen.) Inklusion geht immer auch einher mit einem Paradigmenwechsel. Bisher versuchte man im "System Schule" möglichst homogene Gruppen zu "erschaffen". Mit Inklusion (in allen gesellschaftlichen Bereichen) tauchen jedoch (neue) Fragen auf, z.B. wie man mit Heterogenität umgeht. Letztendlich muss aber jede Lehrkraft für sich wissen, wie er/sie seinen/ihren Klassenraum organisiert. Unterstützung in Hinblick auf Inklusion kann man jedoch (vor allem als SchülerIn) bei der fest integrierten Schulsozialarbeit (Sozialpädagogik, Schulseelsorge) finden.
  • Eine Besonderheit an dieser Schule sind die Vorbereitungsklassen (VKL), die der Integration von Flüchtlingen dienen sollen. Ohne Zweifel müssen dabei neue Schwierigkeiten wie Traumata oder massive Sprachprobleme bewältigt werden. Der Schwerpunkt bei diesen VKL liegt neben Deutsch auf Mathematik und Englisch (z.T. gibt es in den Klassen gleichzeitig MuttersprachlerInnen und Sprachanfänger (also welche, die noch niemals Englisch hatten)).
Nach diesen einleitenden Worten sind wir geschlossen zum ersten Teil der Hospitation aufgebrochen. Dort bekamen wir vor der eigentlichen Beobachtung des "Unterrichtsgeschehens" einen theoretischen Input bezüglich des Konzepts, mit dem gearbeitet wird. In diesen Räumlichkeiten der Schule wurde das "Stockwerkmodell" umgesetzt. Was man unter dem Stockwerkmodell versteht, ist nachfolgend kurz erklärt: 
  • Für den größten Teil der pädagogischen Arbeit wurde der Klassenverband aufgelöst. 
  • Die Türen stehen ständig offen, denn das gesamte Stockwerk wird als "Klassenraum" gesehen (daher der Name). Dies symbolisiert einen der Leitgedanken, mit denen dieses Projekt/Konzept entworfen wurde: Die SchülerInnen sollen sich wohlfühlen und die Lehrpersonen als (Lern-)Partner sehen. Man möchte Gemeinschaftsergebnisse erzielen.
  • Die Lehrkräfte bilden ein (wirkliches) Team und beraten sich regelmäßig. Gemeinsam beratschlagen und erstellen sie Wochenziele usw. Entlastung (für die Lehrperson) bringt das "Satellitenprinzip". Dabei ist ein Kollege für das Coaching/für Kleingruppengespräche, einer für eine Inputphase und einer für den Überblick im Stockwerk zuständig. Aufgrund dieser breit gefächerten Verteilung bleibt im Endeffekt mehr Zeit für die SchülerInnen, die die SchülerInnen auch (tatsächlich) als diese wahrnehmen.
  • Durch die Anwendung des Mentorenprinzips (die SchülerInnen helfen einander gegenseitig und unterstützen sich, soweit sie es können) werden nicht nur die Lehrkräfte entlastet, sondern auch diverse Kompetenzen der SchülerInnen gefördert. Ein lebendiges Beispiel dafür ist das Filmstudio ("Green Box"), bei dem man eine sehr gute und vor allem sehr selbstständige Arbeit beobachten kann. Im Vorfeld dieses Projekts wurden einige SchülerInnen als "Filmmentoren" ausgebildet. Sie bilden die Expertengruppe, an die sich andere SchülerInnen bei Fragen etc. wenden können. Bei der Arbeit in der Green Box und alles was dazu gehört geben sich die SchülerInnen gegenseitig immer wieder Feedback bis ihnen das Resultat gefällt. (Als Nebeneffekt eignet sich das Filmstudio auch gut zur Vorbereitung auf Bewerbungsgespräche und dergleichen.)
  • Ein Wochenplan, der von der Lehrperson korrigiert/durchgesehen wird, ein Lerntagebuch (mit allen wichtigen Terminen und zum Notieren von allem, was sich die SchülerInnen behalten wollen) sowie die Nutzung eines Kompetenzrasters ermöglichen ein freies, motivierendes und (relativ) selbstbestimmteres Lernen. 
Daraufhin durften wir uns völlig zwanglos durch die Räumlichkeiten bewegen. Die SchülerInnen waren sehr aufgeschlossen, wenn wir Fragen hatten und so entwickelten sich z.T. anregende Gespräche. Einblicke erhalten haben wir beispielsweise in die Arbeit im Filmstudio, das Gestalten eines großen gemeinschaftlichen Plakats, in die Vorgehensweise des Schulsanitätsdienstes und, und, und. 

Für einige von uns war die Zeit allzu schnell vorüber, da alle Interessierten die Chance hatten während der ersten Hospitationsphase, die Vorbereitungsklassen kennenzulernen. Es gibt zwei VKL-Klassen und in beide wurde uns Einsicht gewährt. Um ein wirkliches Gefühl für die Arbeit und den Alltag dort zu bekommen, hätten wir zwar definitiv mehr Zeit gebraucht, aber nichtsdestoweniger war es eine bereichernde Erfahrung. Die Jungen und Mädchen kommen aus unterschiedlichen Ländern (Afghanistan, Irak, Rumänien, Syrien). Auch wie lange sie schon in Deutschland Zuflucht suchen variiert stark (2, 4, 6, 11, ... Monate). In die Klasse kommen deshalb auch immer wieder neue SchülerInnen dazu, unter anderem deshalb haben bei Weitem nicht alle einen ähnlichen/vergleichbaren geschweige denn einen gleichen Leistungsstand. Hinzu kommt, dass sie in ihren Heimatländern unterschiedlich lange und intensiv Schulbildung erfahren haben. Viele Schicksale prallen hier aufeinander und bilden zweifellos einen "Konfliktherd", darauf muss man vorbereitet sein. Es war beeindruckend, mit wie viel Ruhe, Ideenreichtum etc., aber auch Konsequenz/Beständigkeit die Lehrpersonen, den Unterricht gestaltet haben. 

In der Pause haben wir uns gesammelt im Lehrerzimmer untereinander austauschen können, ein paar von uns haben die Gelegenheit genutzt und einen kleinen Plausch mit der einen oder anderen Lehrkraft gehalten. Bald ging es dann schon weiter mit der Hospitation in der zweiten Gebäudehälfte der Schule. Hier wird zwar nicht das Stockwerkprinzip angewendet, doch ein "starres Unterrichten" ist auch hier nicht zu finden. Gearbeitet wird relativ frei, sodass zwar im Kern die gleichen Aufgaben bearbeitet werden, aber jede Schülerin/jeder Schüler in ihrem/seinem Tempo voranschreiten kann. Die SchülerInnen sind zur Selbstständigkeit angehalten, bekommen bei Bedarf aber Unterstützung durch die Lehrperson(en). Die Aufgaben sind in kleinere Abschnitte/Teile gegliedert, ein begonnenes Teilstück muss immer beendet werden, bevor etwas Neues angefangen wird. Zwischen den möglichen Aufgabenblöcken kann prinzipiell aber frei gewählt werden. Festgehalten werden alle Ziele etc. in einem individuellen Lerntagebuch. Alle nötigen Materialien befinden sich immer in Reichweite. Jeder Klassenraum hat sich optisch unterschieden, z.B. hinsichtlich Sitzplan und Wandgestaltung. Besonders beeindruckend war die individuelle Gestaltung der Arbeitsplätze einiger SchülerInnen. 

Auch diese Hospitationsphase verging wie im Fluge und schon war große Pause. Wir haben die Zeit genutzt, um mit dem Schulleiter, dem stellvertretenden Schulleiter und drei weiteren Lehrpersonen unsere Eindrücke zu besprechen und offene Fragen beantwortet zu bekommen. Dabei haben wir viele zusätzliche Informationen zur Entwicklung der Schule, zum Tagesablauf etc. erhalten. Folgendes haben wir beispielsweise erfahren:
  • Auf die Frage, was den Schülerinnen und Schülern im Besonderen vermittelt werden soll, haben wir gleich mehrere Antworten erhalten. Zum einen wolle man den "inklusiven SchülerInnen" zeigen, was sie alles erreichen können und gleichzeitig wolle man den anderen deutlich machen, dass nicht alle gleich sind. Zum anderen möchten sie den SchülerInnen bewusst machen, dass die Lehrkräfte für die SchülerInnen da sind, also als Ansprechpartner verstanden werden sollen: dabei geht es um eine Etablierung einer Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten. Außerdem ist es den LehrerInnen wichtig, dass sie keine Fächer, sondern Schülerinnen und Schüler bzw. Kinder und Jugendliche unterrichten; das heißt, ein Ziel ist es, dass die SchülerInnen nach der Schule Anschluss bzw. ihren Platz in der Gesellschaft finden. Dazu zählt auch, dass neben einer Offenheit, auch Grenzen (von beiden Seiten) respektiert werden, sodass am Ende eine Persönlichkeit entsteht und die Schule verlässt.
  • SchülerInnen wollen auf ihre LehrerInnen stolz sein, indem man als Lehrperson z.B. seine Leidenschaft (offen) zeigt. Denn eine Lehrkraft, die gut bei den SchülerInnen ankommt, macht automatisch auch guten Unterricht. (Weil die SchülerInnen den Lehrer/die Lehrerin als Person anerkennen.)
  • Der Stockwerkunterricht entstand aus der Überlegung, wie man 40 Dienstjahre "überlebt", denn täglich gab es viele Konflikte bzw. Konfliktfelder ("ganz normale Probleme" wie z.B. massive Störungen des Unterrichts, regelmäßiges Schwänzen/Fernbleiben des Unterrichts). Natürlich sollten die Bedürfnisse der SchülerInnen an erster Stelle stehen, aber es ging auch darum, wie man als Lehrkraft allen (auftretenden) Problemen entgegen treten kann ohne dabei völlig auszubrennen (und dabei seine Persönlichkeit effektiv einsetzen kann). 
  • Konzepte wie der Stockwerkunterricht erfordern einen großen Aufwand. Letztlich ist der Stockwerkunterricht aber eher als eine Haltung zu verstehen und damit auf alle Schulformen anwendbar.
  • Als Lehrperson ist zu viel Perfektionismus nicht gut/nicht tragbar. Manche Dinge muss man einfach mal so nehmen, wie sie sind. 
  • Ein Vorsatz/Ziel ist es, die Stärken zu stärken. Auf diese Weise entwickeln die SchülerInnen von sich aus (eine Menge) Motivation. 
  • "Wo Energie ist, ist auch Wärme."
Nach diesem abschließenden Gespräch sind wir gemeinsam mit dem Schulleiter zum Mittagessen gegangen. Da die Pause beendet war, mussten wir nicht lange warten und konnten schnell unser Essen genießen. Danach haben wir noch eine kurze Führung durch die Bibliothek bekommen, die wirklich gut mit vielen (neuen) Büchern, Zeitschriften, DVDs etc. ausgestattet ist. Unser Tag an der Mali-Schule neigte sich dem Ende entgegen. Nichtsdestotrotz haben wir uns noch die Zeit für ein paar (teilweise sehr witzige) Gruppenfotos genommen, bevor wir nach Tübingen aufgebrochen sind
In Tübingen im Elternhaus von Laura angekommen haben wir erst einmal den Flur mit all unseren Taschen vollgestellt und dann von Laura eine kleine Hausführung bekommen. Nach einer Besprechung, was wir demnächst kochen wollen (und was wir dafür noch einkaufen müssen) haben wir uns ein bisschen Entspannung gegönnt. In dem großen Haus hat sich unsere Gruppe ein wenig zerstreut, aber zum Abendessen waren wir wieder vereint. Abgeschlossen haben wir den Tag mit unserer obligatorischen Teamsitzung, die nicht nur zum Revuepassieren diente, sondern auch zum Besprechen der Eckpunkte des nächsten Tages und der kommenden freien Zeit.

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